Schmerzen und Schmerzgedächtnis - auch bei Hund?

Chronische Schmerzen und die Schmerzkrankheit

Schmerzen sind bei Hunden wirklich nicht einfach zu beurteilen. Selbst beim Menschen, der ja immerhin darüber reden kann, bleiben Schmerzen eine höchst individuelle, höchst subjektive Sache. Dazu kommt, das das Schmerzempfinden in jeder Situation anders ist. Wenn der Hund hinter dem Eichhörnchen her rennt, ist die schmerzende Hüfte völlig vergessen. Und wenn er im Schnee herumtollt und hüpft, tut ihm bestimmt nichts weh. (Aber nachher wieder …)

Umwelt und Schmerzen

Hormone verändern die Schmerzempfindung: unter Adrenalin (wie beim Jagen) vergisst jeder Hund auch alte Schmerzen. Ein Eichhörnchen, eine Katze oder der Lieblingsfeind, und der Hund rennt hinterher, als wäre nie etwas gewesen.

(Unser erster Hund mit Kniegelenksarthrose wußte nicht einmal, wie er in den fremden Vorgarten, über das geschlossene Gartentor gekommen war - aber das Eichhörnchen, hinter dem sie herumgerannt war, hatte ich auch gesehen. Und zurückspringen, über das geschlossene Tor, war absolut unmöglich - es fehlte das Eichhörnchen … Das mußte der Mensch einsehen. Und peinlicherweise klingeln, um den Hund wieder zu befreien …)

Das macht die Beurteilung, wie schwer die Schmerzen tatsächlich sind, auch nicht leichter.

Schon Aufregung verändert die Wahrnehmung von Schmerzen: dass der Hund beim Tierarzt völlig vergisst, dass er zuhause nur auf drei Beinen laufen konnte, kennt auch jeder.

Die Umwelt hat einen wichtigen Einfluss auf die Art, wie Mensch und Tier Schmerzen wahrnehmen. Auch die Beziehung zu den Sozialpartnern ist hier wichtig. Das kann man zur Behandlung von Schmerzen nutzen.

Akute Schmerzen beim Tier

Akute Schmerzen: Sinnvoller Schutz für den Körper

Akute Schmerzen sorgen dafür, dass z.B. ein schmerzendes Bein entlastet wird. So kann es ausheilen. Das ist zumindest der Plan. Akute Schmerzen sind ein sinnvoller Schutz für die Gesundheit. Chronische Schmerzen aber sind etwas anderes. Sie haben ihren Schutzcharakter verloren. Sie bedeuten eine Belastung für den Körper - bis hin zur Schmerzkrankheit (Wikipedia). Chronische Schmerzen gibt es bei Hunden leider viel zu häufig. Im Laufe des Lebens "sammeln sie sich an". Hier eine Bewegung, die zur Wirbelblockade führt, dort ein "vertretenes Bein", das nicht völlig weggegangen ist …

Chronische Schmerzen

Chronische Schmerzen können durch krankhafte, "gelernte" Veränderungen der Signalverarbeitung im Nervensystem verursacht oder verstärkt werden. Das gilt, selbst wenn der ursprüngliche Schmerzgrund gar nicht mehr da ist. Als chronisch gelten beim Menschen Schmerzen, die länger als drei Monate anhalten. Effektiv verändert sich die Signalverarbeitung aber bereits sehr viel früher. Man kann sagen: alles, das länger als 14 Tage anhält, sollte als chronischer Schmerz betrachtet werden.

Das gilt sogar, wenn ein anderer Schmerz im selben Bereich auftritt. Das kann völlig unabhängig von der ersten Schmerzursache sein, etwa eine Hautentzündung nach einer langwierigen Gelenkverletzung. Der gesamte Signalweg ist bereits vorbereitet: sozusagen sind aus dünnen Kupferkabeln bereits High-Speed-Glasfaserleitungen geworden. Hier ist das Schmerzgedächtnis am Werk.

Veränderungen im Zentralnervensystem bei Schmerzen

Wie entsteht das Schmerzgedächtnis?

Schmerzen können Spuren im Zentralnervensystem hinterlassen. Sie können im Gehirn die Empfindlichkeit für Schmerzreize verstärken. Körperlich zeigt sich das als Überempfindlichkeit: z.B. Hunde lassen sich am Rücken nicht mehr anfassen. Oder sie sacken bei leichtem Druck auf den Rücken bereits herunter.

Solange Schmerzen anhalten, werden ständig Schmerzimpulse über die Nervenbahnen geleitet - wie alle anderen Informationen auch über die Nerven ins Gehirn geschickt werden. Die Schmerz-leitenden Nervenbahnen werden so ebenfalls ständig gereizt. So werden sie immer empfindlicher: sie haben viel Übung und können das, was sie als ihre Aufgabe ansehen, immer besser und schneller. Durch diese wiederholten Reize können sich die Nervenzellen selbst auch verändern. Ihre Reizschwelle sinkt. Ihre höhere Empfindlichkeit sorgt dafür, dass Signale wesentlich schneller an das Gehirn weitergeleitet werden.

Klassische Konditionierung - leider auf Schmerzen

Französischer Bully mit chronischen Rückenschmerzen nach Bandscheibenvorfall
nach Bandscheibenvorfall: ein gutes Leben ist trotzdem möglich

Der Hundekörper lernt Schmerzen

Das Nervensystem "lernt" durch Wiederholungen. Es kann Informationen schneller abrufen – ein Schmerzgedächtnis ist entstanden. Das Empfinden für Schmerzen in dieser Region des Körpers ist nun übersensibel: selbst bei kleinsten Reizen reagiert der Körper mit großen Schmerzen. Das schlimmste aber ist, das Schmerzempfinden wird auch dann ausgelöst, wenn gar kein Schmerzreiz vorhanden ist. Eine leichte Berührung an einem Hunderücken ruft jetzt heftige Reaktionen hervor. Der Hund vermeidet es aktiv - und er meidet auch viele Bewegungen jetzt. So wird er immer weiter eingeschränkt.

So sind aus akuten Schmerzen chronische Schmerzen geworden. Sie können auf weitere Körperstellen ausstrahlen, bzw. werden auch die Nervenzellen der Nachbarregionen überempfindlich. Jetzt weicht der Hund nicht nur, wenn der Bereich um das schmerzende Knie abgetrocknet wird. Das ganze Hinterbein ist überempfindlich geworden.

Chronische Schmerzen

Auswirkungen auf Körper und Psyche

Der chronische Schmerz hat seinen Sinn verloren. Er bedeutet keinen Schutz, etwa wie bei einer akuten Verletzung, die ausheilen soll. Der chronische Schmerz belastet den Körper nur.

Beim chronischen Schmerz ist nicht nur der eigentlich schmerzhafte Prozess betroffen (z.B. die Arthrose in der Hüfte durch Dysplasie beim Hund, Rückenschmerzen, Bandscheibenvorfall). Auch die Psyche ist beeinträchtigt, das ganze Wesen ist gedämpft. Wechselwirkungen zwischen dem, der chronische Schmerzen empfinden, Hund (oder Pferd oder der Katze) und der Umwelt entscheiden jetzt über die Stärke des Leidens - und um Leiden geht es.

Chronische Schmerzen führen zu Depression und sozialem Rückzug. Auch Aggression ist möglich. All das ist über die Cortisol-Stress-Achse zu erklären. Cortisol macht still und depressiv. Ein verletzter Wolf soll sich still verstecken, er soll sich zurückziehen und ausheilen können - aber wenn er von einem Fressfeind gefunden wird, muss er um sein Leben kämpfen. Die Reaktionsweise ist beim Hund nicht anders als beim Wolf (auch wenn es nicht um Fressfeinde geht.) Und Hunde sind alles andere als nett zu einem Unterlegenen. Schmerzkranke Hunde aber können sich oft nicht mehr verteidigen. Rangverluste sind ein Warnzeichen, das ernstgenommen werden muss.

mit vierzehn Jahren - fit und fröhlich

Kopf eines Münsterländer-Rüden

Schmerzen führen zu körperlicher Schonung. Die körperliche Leistungsfähigkeit sinkt dadurch, und besser gelaunt macht das einen Hund auch nicht. Im Gegenteil, wenn der Hund weiß, dass er einem anderen Hund auf dem Feld unterlegen ist, wird er oft schon vorbeugend aggressiv. Aber auch die Schonhaltung führt zu Fehlbelastungen von Muskeln und Gelenken. Und das wieder zu neuen Schmerzen …

Chronische Schmerzen sind von der Ursache losgelöst. Sie bedeuten selbst eine Krankheit. Das Gehirn gewöhnt sich sozusagen an die Situation und die Schmerzen bleiben im Gehirn und in den Nerven bestehen, sogar wenn die Krankheit/ die Ursache bereits behoben sein sollte. Und das hat schwere Folgen für den ganzen Organismus.

Das Schmerzgedächtnis kann gelöscht werden - chronische Schmerzzustände aber machen krank.